Montag, 26. April 2021

Ich war Impfen

Seit inzwischen nun schon mehr als einem Jahr steigert sich für mich das Gefühl zunehmender Ereignislosigkeit, obwohl ich doch gerade an einer besonders ereignisreichen Zeit globaler Bedeutung teilhabe. Eine weltweite Pandemie zu Beginn der globalen, menschgemachten Klimakrise. Tausende, nein Millionen Menschen erkranken, sterben oder leiden für lange Zeit an den Folgen einer Infektion mit einem Virus, der erst seit kurzer Zeit den Menschen als Wirt entdeckt hat. In Windeseile wurden Impfstoffe entwickelt und nun hofft man, die sich inzwischen über den ganzen Globus verbreitete Krankheit eindämmen zu können. Was das Desaster mit dem Klima anbetrifft, so hofft man wohl noch darauf, dass es sich vielleicht als doch kein Desaster herausstellt. Oder ein cleverer Ingenieur ein lukratives Verfahren zur Rettung der Menschheit erfindet.
Heute ist mein erster Impftermin und ich fahre gerade auf Staatskosten mit einem Taxi zu meinem Impfzentrum, dem Velodrom in Berlin. Der Taxifahrer, ein freundlicher junger Mann mit türkischem Akzent, fährt durch den nervösen Berliner Verkehr und fragt, ob ich meine Papiere mithabe, die erste oder schon die zweite Impfung bekomme und, und, und.
Wir sitzen in einem modernen, bequemen Mercedes mit dunkler Lederausstattung, der Dieselmotor brummt, als sei sein Sound in einem teuren Tonstudio komponiert worden. Ich höre die Ventile, das für Dieselmotoren aufgrund der hohen Verdichtung typische harte Brummen, ein trocken beginnender Stoß kurz vor dem oberen Totpunkt des Kolbens, wenn der hochverdichtet eingespritzte Treibstoff zündet, gefolgt von einem perfekt gedämpften Geräusch, wenn das heiße Gas nach verrichteter Arbeit den Schalldämpfer verläßt und ein leises, gut geschmiertes Surren im Getriebe.
Ja, meine Papiere habe ich dabei und ja, es ist meine erste Impfung, und ich bin ein bisschen nervös. Mein freundlicher Chauffeur erzählt mir, was mich im Impfzentrum erwarten wird und ich höre dem Motor zu, wie er kompetent brummt.
Wir sind beinahe am Ziel. Am Straßenrand tauchen die ersten Sicherheitsleute mit bunten Warnwesten auf, Fußgänger pilgern alle in einer Richtung und es geht nach unten, durch graue Betongewölbe. Dann hält der Taxifahrer, sucht seine Papiere zurecht und wir warten nicht lange, bis meine Türe geöffnet wird. Ein freundlicher Gruß und der Hinweis, dass ich mich doch bitte in die Schlange da vorne einreihen möchte.
Inzwischen bin ich am Ziel meiner Schlange am Eingang des Impfzentrums angekommen. Es riecht nach Isopropanol und feuchtem Beton. Ein Mann in gelber Weste begrüßt mich freundlich und weist auf einen bereitstehenden Behälter mit Desinfektionsmittel hin. Ein weiterer Mitarbeiter in roter Signalweste misst meine Temperatur kontaktlos knapp unterm Mützenrand. Auf meine Frage nach dem Messergebnis antwortet er ganz offensichtlich überrascht, 36 Grad Celsius.
Es geht weiter, ein Tisch steht quer vor meiner Schlange, zwei Sicherheitsleute, einer rechts am Tisch, der andere links, die Schlange teilt sich in zwei Hälften und ich werde aufgefordert die Tasche, in der ich meine Unterlagen bei mir trage, vorzuzeigen. Manche Taschen werden von außen geknetet, meine geöffnet und beherzt von Hand durchwühlt. Ein kurzes Nicken, nur gut dass ich mein Taschenmesser zuhause gelassen habe, und die beiden Schlangenhälften wachsen hinter dem Tisch wieder zusammen. Vor mir ein paar graue Betonkörper, über mir graues Beton, ich gehe auf grauem Beton, auf dem gelegentlich bunte Pfeile aufgesprüht sind. Wieder Menschen mit gelben oder roten Plastikwesten, die monoton immer wieder in die Richtung weisen, die vor uns liegt, zum Weitergehen auffordern, immer freundlich. Inzwischen rauscht ein warmer Wind durch den Gang, ich knöpfe die Jacke auf und unsere Schlange stockt vor einer Tür.
An der Tür werde ich von einem weiteren Mitarbeiter gebeten, in einem halbrunden Raum auf einem der an der Wand in gehörigem Abstand aufgereihten Stühle Platz zu nehmen. Grelles Scheinwerferlicht kommt von oben, wärmt zusätzlich zu der Warmluft, die den Gang entlang strömt. Ich unterdrücke das Gefühl, hilflos einer Situation ausgeliefert zu sein, die nicht zu meinem besten endet, wehre mich, indem ich mein Notizbuch öffne und schreibe. Wenn ich aufblicke, sehe ich, wie die Schlange, in der ich eben noch eingereiht war, weiter an uns vorbeizieht. Die Gesichter erscheinen mir leer und ausdruckslos, gleichgültig.
Vor der Pandemie habe ich gerne draußen vor, oder drinnen in einem Café gesessen und geschrieben, Geschichten, nur für mich, oder mal für meinen Blog oder einen Brief, oder ich habe gezeichnet, mit dem Bleistift einem Füller oder einem Tintenstift. Nun sitze ich in einem grauen, bunkerähnlichen Kellergang, geblendet von grellem Scheinwerferlicht und wehre mich gegen schlechte Gedanken.
Ist die Welt eigentlich nur noch in Kaufhallen schön, die Realität graues Beton?
Aber ich muss mich korrigieren, die Menschen, die mich begrüßt haben, mir den Behälter mit Desinfektionslösung gezeigt, die Temperatur unterm Mützenrand gemessen, den Weg gezeigt haben, alle fünf Meter, alle waren ausnahmslos freundlich, es ist der Keller, das Betongrau, das grelle Licht, mein ungutes Gefühl und meine komischen Assoziationen an Situationen, die ich eigentlich gar nicht kenne, nur fürchte.
Es geht durch grell erleuchtete, dunkle Gänge, wir folgen dem monoton wiederholten „hallo, geradeaus weiter bis zum gelben Streifen“ oder auch, „gehen Sie da entlang, um die Ecke“, aber niemals mit einer Erklärung warum, wohin, wofür. Das fühlt sich nach ausgeliefert sein an, nach nichts gutem.
Weiter, mein Grüppchen überholt das Grüppchen, das eben noch an uns vorbei ging und nun auf Stühlen in angemessenem Abstand im grellen Licht von Scheinwerfern sitzt.
Nach gefühlt endlosem Umherirren durch graue Kellergänge gelangen in das überdachte Stadion und dort in einen mit Sichtschutzwänden abgegrenzten Bereich, in dem drei Sitzreihen aufgestellt sind. Dort werden wir aufgefordert, uns zu setzen, in einer Reihe, alle hintereinander. Die meisten wollen hinten sitzen. Das ist schon seit Schulzeiten so, dann kommt man ja vielleicht nicht so oft dran.
Ich will ja dran kommen, setze mich auf den ersten Stuhl ganz vorne. Vor mir ein riesiger Bildschirm, auf dem irgendwas ohne Ton gezeigt wird, was nicht mein Interesse wecken kann. Ein bisschen weiter links kann ich sehen, dass drei Reihen mit Containern aufgestellt sind, oder mit Zelten und ich kann einen kleinen Ausschnitt der Rennbahn erkennen, auf der Radfahrer um die Wette im Kreis fahren können.
Es fährt keiner, aber ein schlanker, junger Mann mit roter Signalweste muss einem komplizierten Auftrag nachkommen. Am Eingang jeder der drei Reihen mit Containern erscheint gelegentlich ein Mitarbeiter mit Warnweste und macht ein Handzeichen mit unterschiedlich vielen ausgestreckten Fingern. Der schlanke, junge Mann vor mir übernimmt die Zeichen, dreht sich um neunzig grad nach links und signalisiert mit eben so vielen ausgestreckten Fingern Mitarbeitern in meinem Rücken, wieviel Plätze zum Impfen frei geworden sind. Daraufhin werden der Anzahl der Finger entsprechend Imfwillige, wiederum im rechten Winkel, zu der entsprechenden Containergasse gewiesen.
Es dauert, bis ich an der Reihe bin, und ich kann meine Beobachtungen akribisch notieren, denke mir, die ganze Choreographie muß sehr sorgfältig geübt worden sein. Ich komme mir vor, wie in einem Theaterstück, dessen Unterhaltungswert sich mir nur mühsam erschließt.
Andererseits bin ich den vielen Mitarbeitern dankbar, die diese mühselige Aufgabe auf sich genommen haben und mit unermüdlicher Freundlichkeit winken, zählen und mir zunicken, wenn sie mir begegnen.
Nun nähert sich mir von hinten eine junge Frau mit Klemmbrett und Signalweste und signalisiert mir, dass ich nun an der Reihe bin, „in den ersten Gang da vorne, bitte“ und lächelt freundlich. Hastig räume ich mein Schreibzeug weg, stehe auf, eile zu der mir zugewiesenen Gasse.
Ein Stuhl. Ein Ablagebrett, eine Plexiglasscheibe mit verschließbarem, aber im Moment geöffnet Loch, etwa 7cm Durchmesser und etwas über Kopfhöhe angebracht. Dahinter Hermine, eine junge Frau mit Namensschild mittelblondem, langen Haar und blasser, etwas unreiner Haut, die freundlich lächelt. Wir begrüßen uns und sie fragt nach meinen Papieren, Ausweis, Impfeinladung, Aufklärungsmerkblatt und Einwilligungserklärung zur Schutzimpfung gegen COVID-19 (Corona Virus Disease 2019) mit mRNA-Impfstoff).
Mein vom Robert Koch Institut heruntergeladenes und ausgefülltes Exemplar ist veraltet und Hermine holt ein neues, füllt es für mich aus und lacht, als sie meine Anmerkung „Gewinnorientiertes Denken ist im Gesundheitswesen unangemessen“ liest. Sie überträgt auf meinen Wunsch auch die Anmerkung und ich bekomme ein Klemmbrett mit den Papieren, meinem Ausweis und einem Lächeln von Hermine. Unterschreiben muß ich noch und dann kann ich weiter.
Das Lächeln nehme ich auf, folge ihren Anweisung und gehe die Containergasse entlang, werde schon erwartet, diesmal ist die Frau dunkelhaarig, mit leichtem, südländischen Akzent und freundlichen Augen hinter der Atemschutzmaske. Ich werde gebeten, mich zu setzen, das Stühlchen muss noch zurecht gerückt sein, damit rund herum genügend Bewegungsraum bleibt und ich bekomme erklärt, die Frau mit den dunkeln Haaren wird die ordnungsgemäße Protokollierung des nun folgenden Impfvorganges vornehmen. Ich werde abgelenkt, als erneut zwei Frauen hinter einem Vorhang erscheinen. Dr. Astrid Geldmacher stellt sich vor, sie wird mich gleich impfen und ob ich noch fragen habe. Ich habe eigentlich immer Fragen, aber jetzt fällt mir keine mehr ein.
Also mache ich den Arm frei, setze mich wieder und lasse mir die scharf gespitzte Nadel mit dem Impfstoff in den Musculus deltoideus stechen. Weil ich keine Fragen habe und weil meine Anmerkung auf der Einwilligungserklärung auf geteilte Meinung fällt, entspinnt sich ein locker, scherzhaftes Gespräch während des Impfen und als ein Soldat in Tarnkleidung hinter den Vorhang schauen will, während ich mir die Hosenträger hochziehe kommt in der kleinen Impfkabine zum Schluss noch eine gut gelaunte Vertrautheit auf.
Ich verabschiede mich und werde zu der letzten Station meiner kafkaesken Reise begleitet. Wieder ein Stuhl, eingereiht und ordentlich ausgerichtet zu einem Schirm mit Bildern, die niemanden interessieren, einer großen Uhr und mit Blick auf ein Schild „Ausgang“. Ich muss noch ein bisschen warten, damit man sehen kann, ob ich nach der Impfung umkippe und bekomme ein paar Gummibärchen und einen Plastikbecher Wasser, diesmal von einer Mitarbeiterin, wiederum mit südländischem Akzent, die nicht Gummibärchen sagen kann, obwohl sie bestimmt schon tausende davon verteilt hat.
Umgekippt bin ich nicht, also schreibe noch ein bisschen, bevor ich nachhause fahre. Diesmal ein Mercedes mit Benzinmotor und digitalem Armaturenbrett, auf dem ein Musikvideo läuft das eine übertrieben geschminkte, bunt beleuchtete junge Frau zeigt, die alberne Bewegungen zu seltsamer Musik macht. Der Diesel hat mir besser gefallen, wegen des Klangs und der analogen Anzeigen.

Um die sich abzeichnende Klimakatastrophe abzuwenden, habe ich noch keinen Termin. Impfen hilft da wahrscheinlich nicht.
















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