Mittwoch, 3. Oktober 2018

Bahnstare



Im letzten Winter habe ich sie das erste Mal beobachtet, Stare in der Bahnhofshalle am Alexanderplatz. Als erstes war mit ihr helles Zirpen aufgefallen, das unüberhörbar die Geräuschkulisse der nicht gerade leisen Bahnhofshalle dominierte. Dann sah ich sie, die hübschen, frechen Vögel mit ihrem gepunkteten Gefieder und den spitzen Schnäbeln. Eilig trippelten sie zwischen den Füßen der Reisenden umher und sammelten die heruntergefallenen Bröckchen. Ganz offensichtlich war die Versorgung ausreichend genug, sich die lange Reise ins Winterquartier zu sparen. Satt nach Marokko, Algerien oder gar nach Ägypten zu fliegen, zogen sie es vor, den Winter in der zugigen Bahnhofshalle zu verbringen. Als der Winter vorbei war, wurde es wieder ruhiger auf dem Bahnhof, die Stare zogen auf die Felder und Wiesen mit reifem Korn und leckern Kirschen. 
Gespannt wartete ich darauf, ob das Völkchen auch in diesem Herbst wieder in die Bahnhofshalle zurück kehrte, statt sich auf die beschwerliche Reise in den Süden zu machen.
An welchem Tag genau, kann ich nicht sagen, aber es war ein Dienstag, denn Dienstags fahre ich regelmäßig mit dem Regionalzug nach Potsdam zum Malen, da hörte ich in der Bahnhofshalle das hungrige Piepsen von jungen Falken. Verwundert sah ich mich um, konnte jedoch keinen Vogel entdecken. Ein paar Tauben trippelten nervös umher, aber ansonsten war der Bahnhof vogelfrei. Einige Dienstage später war mir klar, es gibt keine Falken in der Bahnhofshalle. Das hungrige Piepsen kam aus einem Lautsprecher. Irgend ein findiger Techniker, Freund glatten Stahls und sauberen Betons hatte wohl die Idee, auf diese Weise die Vögel aus der Halle zu vertreiben.
Traurig für die Stare und traurig für die Menschen. 
Wie schön wäre es, wenn die Ingenieure ihre Kunst verwenden würden, einen Schienenstrang zu entwickeln, der nicht gleich einem scharfen Messer alles lebendige auf seinem Weg zerschneidet und wenn sie Hallen bauen würden, die nicht nur Reisende vor Regen und Sturm bewahren, sondern auch andere Gäste beherbergen können, die Schutz unter dem großen Dach suchen und zum Dank die Reisenden mit Farben, Gesang und Geselligkeit erfreuen. 
Zwischen den Schienen könnten Gräser und Mose gedeihen, Bäume und Büsche könnten die Schienen begleiten und hoch hinauf unter das gewaltige Hallendach könnten Efeu, Wilder Wein und Blauregen um die Wette die stählernen Träger umwuchern. Exotische Blüten und Flechten könnten vom Dach herunter baumeln und mit ihrem Nektar Schmetterlinge und bunte Vögel anlocken. Es wäre Platz für Singvögel und Räuber gleichermaßen und vielleicht ja auch für ein Falkenpärchen, das unterm Hallendach seine Jungen aufzieht.
Zwischen den Gleisen könnten Gaukler, Händler und Musikanten auf dem weichen Moos sitzen und mit ihren Kunststückchen ein paar Münzen von den Reisenden verdienen und wer kein Bett für die Nacht hat, findet ja vielleicht ein Plätzchen im Trockenen unter dem Hallendach, das er sich mit ein bisschen Gärtnerarbeit verdient.
Heute sind die Stare zurück, nur ein paar, vielleicht die Vorhut, aber unüberhörbar und auch gleich wieder erfolgreich auf Futtersuche. 
Ihr heller, zirpender Gesang hat mich an den gerade vorgestern vergebenen Nobelpreis für Physik erinnert. Da ging es um Laserphysik, mit der man winzige Objekte hantieren oder unblutig operierend und präzise die Sehkraft des Auges verbessern kann. Das Geheimnis ist ein Zirpen, mit dem man das Licht des Lasers moduliert und so für einen extrem kurzen Moment mit extrem großer Leistung erstrahlen läßt.
Zirpen scheint sowieso im Moment sehr beliebt zu sein, so erforschen unserer Mobiltelefone mit einer Art akustischem Echolot ihre Umgebung, in dem sie leise und für uns unhörbar zirpen. 

Was die Stare bewirken, während sie zwitschernd und zirpend durch Wald und Flur oder durch die Bahnhofshalle am Potsdamer Platz ziehen, werden wir wohl niemals erfahren, zumindest nicht, ohne sie sorgfältig und respektvoll zu beobachten und liebevoll für sie zu sorgen.

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