Mittwoch, 2. September 2015

Vom Wesersandstein

Alter Matsch

Es ist Sommer, ich sitze auf einer felsigen Anhöhe im Sollinggebirge und blicke hinab in das Wesertal. Vor unglaublich langer Zeit zog ein hier gewaltiger Strom vorbei, von irgendwo kommend und nach irgendwo fließend und bildete just hier, mir zu Füßen, eine Senke, vielleicht auch einen Strudel, in dem sich riesige Mengen feinen, gleichmäßig gekörnten, roten Sandes sammelten.
Der Sand füllte die Senke mit der Zeit und bildete eine mehrere hundert Meter dicke, homogene Schicht. In den matschigen Tümpeln an der Oberfläche siedelte sich allerhand Gewürm an. Dinosaurier hinterließen ihre Fußspuren, während sie nach den fetten Würmern gruben und die Zeit verging.
Das Klima schwankte, die Dinosaurier starben aus und sicherlich auch viel von dem im Matsch lebenden Gewürm. Der Matsch blieb und auch der viele rote Sand. Der Strom strömte mit veränderter Geschwindigkeit, änderte gelegentlich seinen Lauf und auf dem roten Sand und den Matschlöchern und den Fußspuren der Dinosaurier lagerten sich tausend Meter von irgend etwas ab, das weiter stromaufwärts zuvor davongespült worden war.
Im Laufe der nun folgenden zweihundert Millionen Jahre änderte der Strom hin und wieder sein Strömen und spülte dabei die tausend Meter des abgelagerten Sedimentes wieder weg. Der rote Sand und auch die Matschlöcher waren unter dem gewaltigen Druck der dicken Sedimentschicht inzwischen zu Stein verdichtet.
Das Gewässer, mittlerweile zu dem geworden, was wir jetzt als Weser kennen, begann nun, sein Flußbett in den harten Stein zu schneiden.
Zwischen Würgassen, wo die Ruine des ersten deutschen Kernkraftwerkes düster drohend hinter dem kleinen Dörfchen aufragt und Bad Karlshafen, dem kleinen Städchen mit den schönen Häusern, den vielen Schulden und den wenigen Arbeitsplätzen, findet man rechts und links der Weser an den Hängen ein paar Steinbrüche, in denen fleißige Portugiesen arbeiten.
Einige der Steinbrüche sind inzwischen wieder aufgegeben, aus den anderen brechen die portugiesischen Arbeiter den roten Wesersandstein und verkaufen die Brocken an Steinmetze, die den Stein zur Restaurierung alter Figuren und für Simse und Treppenstufen an historischen Gebäuden nutzen, oder an Amerikaner, die auch gerne alte, historische Gebäude hätten. In einem der aufgegebenen Steinbrüche oben im Solling muß man vor langer Zeit auf eines der versteinerten Matschlöcher gestoßen sein. Der zu Stein gewordene Matsch mit den vor rund zweihundert Millionen Jahren von irgendwelchen längst vergangenen Lebewesen gebildeten Gängen und Furchen ist für Steinmetze oder zum Bau von Treppenstufen nicht zu gebrauchen und ist so wohl von einem der Arbeiter achtlos beiseite geworfen worden.
Der Steinbruch wurde bald wieder geschlossen, in Deutschland wütete der zweite Weltkrieg, und die Anhöhe über dem Steinbruch wurde Sohnreyhöhe genannt. Der Krieg ging zu Ende, der gute Ruf des Heinrich Sohnrey ebenfalls, aber die Sohnreyhöhe heißt, wohl, weil sie so unbedeutend ist, weiterhin Sohnreyhöhe.
Ich gehe gern dort hin, man findet im Herbst manchmal Steinpilze und als Kinder haben wir in dem verlassenen Steinbruch Feuer angezündet und Stockbrot gebraten.
Heute bin ich über einen Stein gestolpert und als ich ihn umdrehte, sah ich Löcher und Gänge und ich konnte mir vorstellen, wie Gewürm vor zweihundert Millionen Jahren, als der Stein noch ein Matschloch war, die Strukturen in den weichen Schlamm gegraben hat.
Ich habe mich oft, wenn ich die mächtigen roten Felsen an den Weserhängen sah, gefragt, ob es nicht Spuren in dem Sand geben würde. Irgend ein Stückchen von einer Pflanze oder einem Tier, eine Fußspur, eine Kralle oder einen Zahn. Nie bin ich bis heute fündig geworden, obwohl ich so manchen Stein umgedreht oder sogar gespalten habe, auf der Suche nach etwas, das geblieben ist, während die Zeit verging.
Schnell stand deshalb der Entschluss fest: Ich werde diesen Stein mit nach Hause nehmen, nach Berlin. Ich werde ihn waschen und auf die Fensterbank neben dem Frühstückstisch stellen. Wenn ich dann am Tisch sitze, werde ich mir die Löcher und Furchen ansehen und mir vorstellen, wie irgendwelche, längst ausgestorbene Tiere sich durch den Schlamm wühlen, auf der Suche nach inzwischen wahrscheinlich ebenfalls ausgestorbenem Fressbaren und verfolgt von größeren, auch nicht mehr existierenden Kreaturen mit langen Krallen und Zähnen, die man anderenorts manchmal als Versteinerungen finden kann.
Für das zu Stein gewordene Matschloch wird nun ein weiterer Abschnitt in seiner unvorstellbar langen Geschichte beginnen, an einem anderen Ort und in anderer Gesellschaft.
Ich habe gehört, daß bald wieder ein Klimawandel ansteht. Die Zeiten werden sich wieder ändern, Ströme werden anschwellen oder versiegen, vielleicht sogar neue Gebirge entstehen. Das Matschloch, mittlerweile zu einem harten Steinbrocken geworden, kann einiges aushalten.

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